Sie hat sich einen fünfzackigen Stern in den Bauch geritzt und sich unter einen Wärmestrahler gelegt, damit die Wunde stärker blutet.
Sie hat einen fünfzackigen
Stern am Boden angezündet, bis ein Baum in der Nähe Feuer fing.
Sie hat sich ihre langen
Haare abgeschnitten, ihrem Freund erlaubt mit einem Pfeil auf ihr Herz zu
zielen.
Sie gestattete anderen
Menschen, sie mit Gegenständen zu quälen, sie zogen sie aus und hätten sie
beinahe umgebracht und zuvor vergewaltigt.
Sie zeigte ihre Nacktheit,
legte sich auf Eisenstäbe über Kerzen und ohrfeigte ihren Partner öffentlich
und ließ sich ohrfeigen.
Sie putzte einen Haufen
Rinderknochen und sang dabei Klagelieder.
Sie lebte bei den Aborigines
und den Tibetern und legte unzählige Kilometer auf der chinesischen Mauer
zurück.
Was ist diese Frau?
Verrückt?
Oder einfach die momentan
renommierteste Performance-Künstlerin der Welt.
Die Rede ist von Marina
Abramović, die am 30.11.1946 als Tochter von Partisanen und Enkelin eines Patriarchen der Serbisch-Orthodoxen Kirche in Belgrad geboren
wurde.
La Times |
Ich interessiere mich für
Kunst, aber um ehrlich zu sein, konnte ich mit Performance noch nie etwas
anfangen. Oder mit Bildern, die nur zwei Striche aufweisen und dann für
Millionen Euro verkauft werden, aber sie hat es geschafft, was vorher keinem
gelang.
Ich verstehe, was sie durch
ihre Kunst sagen möchte, oder meine zumindest, es zu verstehen.
Marina studierte zunächst
fünf Jahre lang Malerei in Belgrad und bald danach lehrte sie bereits an der
Akademie der Bildenden Künste in Novi Sad. Im Anschluss war sie in Paris,
Berlin, Hamburg und Amsterdam tätig.
Aber für mich persönlich ist
es gar nicht wichtig, ob sie an der Académie des Beaux-Arts lehrte oder nicht.
Was mich an ihr fasziniert, ist ihre Art, Emotionen zu übermitteln, so dass
Kunst plötzlich nichts Abstraktes ist, sondern etwas Reales, sie ist zum
Greifen nah, erlebbar und zutiefst emotional.
Es ist ganz offensichtlich,
dass Marina ihre Kunst nicht wirklich inszeniert, sondern lebt.
Der Mann, der den Pfeil auf
ihr Herz richtete, war der deutsche Künstler Ulay, mit dem sie mehrere Jahre
eine Beziehung führte und zusammen sehr körperbezogen performte.
Sie trennten sich nach
Jahren in einer dreimonatigen Prozedur, in der sie auf der chinesischen Mauer
aufeinander zugingen.
In einem Interview sagte
sie: „Ich war 40, fett, allein, ohne Job. Ich hatte nichts mehr, denn mein Job
war es ja, mit ihm aufzutreten.“
2005 ging sie nach New York
und mit der Zeit avancierte sie zum Künstler-Rockstar.
Was ist es, das andere so in
den Bann zieht? Ihre Schönheit? Nein, sie ist keine klassische Schönheit und
dennoch anmutig. Ihre Offenheit? Dass man das Gefühl hat, dass sie immer sie
selbst ist, ohne eine Maske zu tragen, dass sie anscheinend ihr ganzes Leben
öffentlich verarbeitet?
Marina Abramović hatte ein
kühles Verhältnis zu ihrer Mutter Danica, die sie nie in den Arm genommen oder
geküsst hat. Als 3-Jährige wurde Marina von ihrer Oma gehütet, die mit
Essensmarken um Lebensmittel anstehen musste und Marina dann alleine daheim
ließ.
„Sjedi tu za stol i ne setaj
po kući“, hatte sie ihrer Enkelin eingebleut. (Setz dich hierhin und beweg
dich nicht.)
Als die Großmutter nach
Stunden nach Hause kam, saß Marina immer noch regungslos am Tisch und hatte
nicht einmal das Glas Wasser angerührt.
Lag es daran, dass sie Jahre
später drei Monate am Stück jeden Tag von morgens bis abends regungslos auf
einem Stuhl im MOMA in New York saß und eine ihrer erfolgreichsten Darbietungen
präsentierte: The artist is present.
![]() |
workloveplay. Gewann den Publikumspreis der Berlinale |
Über 700 Stunden nahezu
regungslos auf einem Stuhl, der für alle Fälle mit einem Loch ausgestattet war,
falls die Künstlerin irdischen Substanzen freien Lauf lassen musste. Ihr
gegenüber nahmen Menschen Platz und fingen unter Umständen schon nach wenigen
Augenblicken an zu weinen. Sharon Stone nahm Platz, genau so wie James Franco.
Die Menschen rissen sich darum, auf diesem Stuhl zu sitzen und kampierten vor
dem MOMA.
Als ich im Sommer selbst im
MOMA war, habe ich das auch erlebt, aber da war ganz profan Robert Pattinson
das Objekt der Begierde.
Aber eine damals 63-Jährige,
die nicht nur Frauen sondern auch Männer zum Weinen bringt?
![]() |
artnet |
Die Lady Gaga zu Lobeshymnem
veranlasst, die als reine Quelle der Inspiration bezeichnet wird?
Ich kann es verstehen. Marina
wirkt authentisch in allem, was sie tut. Sie scheint sich nicht darum zu kümmern, was andere von ihr halten
und sie sagt Dinge, die letztendlich doch plausibel klingen. Was macht es schon, wenn sie nach einer Darstellung unter den Tisch kriecht und die Kleinkindstellung einnimmt, weil ihr ganzer Rücken schmerzt? Wen kümmert es, ob es dämlich aussieht.
Nun werden böse Zungen
behaupten, dass es keine Kunst sei, still zu sitzen und fremde Menschen
anzustarren, aber nach unzähligen Stunden Yoga und Meditation kann ich sagen:
Es ist verdammt schwer. Der Geist hält nicht still, ja man fühlt sich fast
bedroht, nichts tun zu müssen oder zu können. Man will sich bewegen, sich
kratzen, irgendwann schmerzt jeder Muskel und jeder Knochen. Und die Gedanken.
Sie rasen und machen es fast
unmöglich, abzuschalten.
In Dokumentarfilm „The artist
is present“ beschreibt die Künstlerin, dass es nicht um sie geht bei ihrer
Darstellung. Die Menschen benutzen sie als Spiegel, sie sieht viel Wut sagt sie
in den Gesichtern, Neugierde oder Schmerz, sehr viel Schmerz. Manche Menschen
tragen so viel Schmerz mit sich herum.
Und wann sehen wir fremden
Menschen schon lange und intensiv in die Augen? Sind sie denn etwa nicht der
Spiegel der Seele? Was zeigt die Seele?
„She slows everyone down“,
heißt es im Film. Manche Menschen sind so gestresst, dass sie einfach in das
Museum kommen, um den ganzen Tag still zu sitzen.
Aber warum verletzte sie
sich so oft selbst?
„Wenn man durch den Schmerz geht,
lernt man zu verstehen, wie man ihn kontrollieren kann. Wir wissen, wie
Computer, aber nicht mehr, wie Körper und Geist funktionieren. Dabei wären wir
allein durch unseren Willen in der Lage, Blutungen zu stoppen, den Herzschlag
zu reduzieren, die Körpertemperatur ansteigen zu lassen. Es ist unglaublich,
wozu wir fähig wären, wären wir keine Invaliden. Wir orientieren uns nach außen
anstatt nach innen. Der Körper ist ein Kosmos. Ihn zu verstehen, heißt, das
Universum zu verstehen. Die Performance ist für mich ein Werkzeug. Ich zeige
dem Publikum: Wenn ich durch diesen Schmerz gehen kann, dann könnt ihr das auch
(...) Nein. Der Schmerz verschwindet. Ich weiß nicht, wohin, aber irgendwohin.
Das Gefühl ist wundervoll. Denken wir an all die religiösen Praktiken, bei
denen man einen ekstatischen Zustand erreichen kann, der Körper plötzlich nicht
mehr reagiert, ganz gleich, was man ihm antut. Wenn man sich selbst Schmerz
zufügt, um sich vom Schmerz zu befreien, dann ist Schmerz in Ordnung.“
Warum
verbrannte sie den Stern in Belgrad? Auflehnung gegen sozialistische Strukturen,
sagt sie.
Warum putzte
sie Rinderknochen und sang dabei Klagelieder aus Serbien und Montenegro?
Verarbeitung des Krieges, sagt sie.
(Das Werk, das auch bei ARTE ausgestrahlt wurde,
heißt Balkan Baroque. Hier zu sehen!. Nesreca...strah...odlazak...)
Warum
durften andere Menschen sie verletzen?
Sie wollte
zeigen, zu was Menschen fähig sind, wenn man ihnen Macht gibt und dass einige
sie missbrauchen würden. Sie hatten nämlich jegliche Verantwortung abgegeben
und ein Schreiben unterzeichnet, in dem die Künstlerin die alleinige
Verantwortung übernahm.
Sie wurde
ausgezogen, stranguliert und geschnitten. Bestie Mensch.
Im Stern
war letztens ein Artikel über charismatische Menschen und entweder man hat
Charisma oder man hat es nicht.
Ist das das Geheimnis um den Kunst-Hype um
Marina?
Landet sie deswegen auf dem Cover der Elle?
Ich für
meinen Teil sehe nichts Abgehobenes an ihr, keine Allüren und keine Arroganz,
sondern eine schonungslose Offenheit. Ich sehe eine Frau, die ihrem Expartner
nach zwanzig Jahren noch sanft in die Augen sieht, die am Grab der Mutter weint
und gnadenlos ehrlich ist. Einfach existiert. Ihr Horizont kommt mir weiter
vor, als der eines Damien Hirst hoch zehn, denn ihre Tiefe werden seine
Diamantschädel nie erreichen.
Zitat
Marina: „Der Mensch hat vor zwei Dingen
Angst: vor seiner Sterblichkeit und vor dem Schmerz. Nur wenn man sich von
beiden Ängsten befreit, kann man sein Leben geniessen. Und das tue ich jetzt.“
Ja, sie
wirkt wahrlich befreit.
Lady Gaga about Marina:
Marina on Atlas TV (Serbokroatisch) 1:
Marina about Lady Gaga and life in NY, Crna Gora etc:
Marina on Belgrade Culture:
Sneki
Keine Kommentare :
Kommentar veröffentlichen