26. September 2013

Auffallend viele Kondome – a German girl in Bosnia


Dieses Jahr ist eine deutsche Freundin (aber nicht die erste) in das Haus meiner Eltern nach Bosnien gefahren, um uns alle zu besuchen. Mich interessiert es immer, was Deutsche so „sehen“, wie sie das Land empfinden und wie es ihnen gefällt.
Hier also ein kleiner Bericht meiner Freundin Carolin.
(Hi Caro :-))
1) Wieso bist du nach Bosnien gefahren?

Weil mich meine „älteste Freundin“ eingeladen hat.

Ich brauchte mal einen Tapetenwechsel und wollte auch etwas anderes erleben.

Mein Sohn sollte etwas von der Welt sehen.
Außerdem schien eine 10-stündige Busfahrt mit einem bosnischen Busunternehmen ein Abenteuer zu sein.

Ich glaube, Abenteuer trifft es ganz gut, da von den Fahrern niemand Deutsch sprach und aus 10 Stunden können je nach Lage an der Grenze auch mal schnell 17 Stunden werden.

Hinzu kommen seltsame Musikgeschmäcker der zwei Busfahrer, die während der Fahrt auch rauchen, obwohl das eigentlich verboten ist, die ganz hinten im Bus liegen und schlafen und laut schnarchen und einen bitten, eine Schachtel Zigaretten auf die eigene Kappe zu nehmen, weil derjenige selber zu viele dabei hat.

2) Wie hat dir Bosnien gefallen?

Bosnien hat mir sehr gut gefallen. Es ist ein wirklich schönes Land. Baulich und menschlich nicht mit Deutschland vergleichbar, obwohl die Landschaft aber ländlichen Gebieten in Deutschland ähnelt.


3) Was war anders, als du es dir vorgestellt hast?

Ich habe mir gar keine Vorstellungen gemacht. Aber es war das Schwimmbad.

Das Schwimmbad hatte bei 28/29 Grad schon zu, weil die Temperatur gefallen war und es zu kalt war! Staunen auf unserer Seite und Ausweichen auf den nächsten Fluss.

4) Was hat dir gefallen?

Traumhaft war unser Badetag. Super! Total idyllisch, einfach schön. (An einem Fluss, an dem früher eine alte Wassermühle stand. Im Fluss kreuchte und fleuchte es vor Fischen und Schlangen und anderem Getier. Zwei Männer angelten mit ihren Kindern und spießten die Fische auf Holzstäbe auf, um das Abendessen später nach Hause zu tragen.)

Auch das Fischlokal war super traumhaft. Der Kuhstall deiner Tante im Dorf war auch ein Highlight und die vielen verschiedenen Tiere waren ein Erlebnis (1. Abend).

Insgesamt haben wir 19 verschiedene Tierarten hautnah gesehen, für mein Kind war das wie ein Urlaub auf einem großen Bauernhof. (Von Ziege, Katze, Hund, Ente, Schwein, Kuh, Eidechse, Schlange, Meerschweinchen…war alles dabei. Meine Tante Mila hat einen ganzen Schuppen voller Meerschweinchen. Mein Cousin hat zwei von einer pijaca mitgebracht und das Pärchen war schon in freudiger Erwartung. Ziemlich bald vermehrten die sich wiederum und nun sitzt eine Horde Meerschweinchen im Raum, in dem das Fleisch geräuchert wird und quiekt vergnügt vor sich hin. „Hoces jednog? Nosi ih sve ako hoces. Sta ce mi?“, sagt meine Tante und hofft, dass ich sie von der Schweinchenplage erlöse.

Das Fischlokal besteht nur aus lose zusammengezimmerten Holzbrettern und liegt an einem Bach. Die Fische werden lebend aus einem Bottich geholt, getötet, saubergemacht und dann landen sie auf dem Grill. Dazu gibt es Krautsalat. Ein anderes Gericht gibt es nicht. Latte Macchiato auch nicht, dafür einen Kinderspielplatz, Hunde mit denen man spielen kann und einen Hamster in einem Hamsterkäfig in einer kleinen Bretterbude. Das Restaurant liegt abgeschieden auf einem Berg in der Nähe des Klosters Liplje. Uriger, natürlicher und gesünder geht´s nicht.



5) Was hat dich fasziniert?

Die Bienen deines Vaters, die Honigwaben und diese gelben Krümel.

Mein Papa ist Hobbyimker, besitzt mehrere Bienenvölker und stellt Honig und die dazugehörigen Nebenprodukte her. Die gelben Krümel, die meine Mama in einer großen Tupperdose aus dem Kühlschrank holte, sind einfach Blütenpollen, die an den Beinen der Bienen kleben bleiben und dann im Bienenstock abfallen und nicht verarbeitet werden. Es sind ganz kleine Kügelchen, von denen man jeden Tag einen Teelöffel essen sollte. Sie sind äußerst gesund. Die Inhaltsstoffe wie Vitamine, Mineralien, Aminosäuren, Proteine, Enzyme und Coenzyme haben einzeln schon eine positive Wirkung auf den Menschen. In Kombination entfalten sie eine noch höhere Heilkraft. Es gab bereits erste klinische Studien, die belegen, dass reine Blütenpollen antibiotische, antiinflammatorische, immunstimulierende und antikanzerogene Eigenschaften haben. Auf gut Deutsch gesagt: sie bekämpfen Bakterien, helfen bei Entzündungen, regen das Immunsystem an und bekämpfen Krebs bzw. beugen diesem vor.




6) Was hat dir nicht so gefallen?

Dass jemand (also Sneki) mir vergessen hat zu sagen, dass 2 Leute Geburtstag haben/hatten in der Zeit und ich daher kein Geschenk hatte!

Es waren eigentlich vier! Duki, Daca, Goran und Vesna

7) Was ist dir besonders aufgefallen?

Dass mein Sohn ein Fototalent hat, das ich fördern will. Und das es auffällig viele Kondome in den Supermärkten gibt.

Was sagt das bei den Deutschen über die Bosnier aus? Was heißt auffällig viele? Warst du letztens mal im DM, gerade heute Morgen habe ich Dinge schön versteckt hinter einem Aufsteller gesehen, von denen ich hoffe, dass mein Sohn beim nächsten Einkauf nicht fragt, was das ist.

8) Wie hast du die Menschen dort empfunden?

Die Menschen sind einfach typische Südländer. Gastfreundlich, offen, liebenswert und auf jeden Fall auch ein Grund, warum ich die Einladung angenommen hab. Man gehört gleich zur Familie, da steh ich drauf.

9) Was hat dich schockiert?

Das Tierheim/ der Hundezwinger.


Dort haben wir auch „Wolle“ gefunden. Ist er nicht das Süßeste, seit es kleine Kuschelmonster gibt?




10) Was war unvergesslich?

Die Mutter an der Gedenkstätte und Wolle.

Im Dorf gibt es eine Art Gedenktafel, die an die Soldaten erinnert, die im Bosnienkrieg gefallen sind und die aus diesem Dorf stammen. Eines Abend sitzen wir In-Cafe (das einzige Cafe, in dem nur ältere Herren sonst sitzen und in dem sich einer lauthals beschwert, dass die österreichische Rente von 1000 Euro nicht reicht, immerhin habe er sich die Gesundheit kaputt gemacht, weil er Straßen um Wien geteert habe (pizda im materina hitlerovska…). Er flucht so derb und extrem laut, dass der Hund aufsteht und sich woanders hinlegt. Auf jeden Fall kam eine ältere Frau ganz in Schwarz an die Tafel, legte ihre Hand auf das eingravierte Gesicht ihres Sohnes und fing zu klagen und zu weinen an. Wir kamen ins Gespräch, weil Caro das Denkmal gerade fotografierte und dann fing zu erzählen an. Sie sagt, sie dachte, sie würde den Tod ihres Sohnes nicht überleben, er war doch erst 21 und der Jüngste (auch ein Drazen). Aber sie sei noch hier, nach 20 Jahren, genauso wie der Schmerz.

Dann putzte sie den Stein mit ihren bloßen Händen, entschuldigte sich bei ihrem Sohn, dass sie kein Taschentuch hat und sagte: „Ajde sine, lepi moj, zbogom, sutra ce mama opet doci.“

(Also, mein Sohn, leb Wohl, morgen kommt Mama wieder.)

„Er hat immer gesagt: Mama, weine nicht, ich komme doch wieder von der Front,“ sagte sie mir, „aber dann kam er nicht wieder.“ Und dann ging sie fort.


11) Würdest du wieder hinfahren?

Ja, ich würde gern mehr von Bosnien sehen.

16. September 2013

Yugoslav voices from the Holocaust

Ich habe bei Youtube ein sehr interessantes Video über Juden in Exjugoslawien und den Zweiten Weltkrieg gefunden.

Eine Dame im Video sagt: „Sarajevo wurde auch Klein-Jerusalem genannt.“

(Seltsam, habe erst letztens ein Video gesehen, in dem Franjo Tudjman sich mit dem Messias und Zagreb mit Jerusalem vergleicht...)

Über die Geschichte der Juden am Balkan weiß ich nur wenig, daher fand ich das Video sehr infomativ.

Sprache: Englisch/Serbokroatisch/Hebräisch






10. September 2013

Sunce na koži – Sonne auf Haut





Der Boden hob und senkte sich, kam ihr entgegen, nur um dann wieder schlagartig abzufallen.

Er atmete, er pulsierte, bebte und wackelte.

„Warum nur habe ich immer noch Angst?", dachte sie.

„Es ist das sicherste Transportmittel. Aber es sind so viele Tonnen Stahl. Wie viel mochte so ein Flugzeug wiegen? Und all diese Menschen in ihm? Wenn 400 Leute hineinpassten? Wenn jeder um die 80 kg wöge? Und dieses Ungetüm hob sich bedenkenlos empor in die Lüfte, die ganzen Tausende von Kilogramm hielten es nicht auf, und nicht die fetten Menschen an Bord und nicht das Gepäck der fetten Menschen...."

Sie sah wieder aus dem kleinen ovalen Fenster, der Boden atmete immer noch. „Wenn wir jetzt abstürzen, dann sehe ich Viktor nie mehr, und was soll Danijel denken, warum ich in dieser Maschine saß?“

Die Lichter schwirrten nur so am Fenster vorbei, Lichter eines fremden Landes, in dem sie noch nie zuvor gewesen war. Es hatte Viktor Schutz geboten, Schutz vor ihr und hatte ihn aufgenommen, um ihm Trost zu spenden, seinen Verlust zu lindern und ihn glauben zu machen, dass die vielen Kilometer etwas bewirken könnten.


Wozu gab es eigentlich Uhren ohne Ziffern? Hatte seine Uhr nicht eine stolze Summe gekostet? Er konnte die Temperatur ablesen, das Datum, aber es waren keine Ziffern dort und die Zeiger zeigten ins Leere, sie schienen zu sagen: 
„Rate doch, ob es zehn ist oder schon elf, wir zeigen dir grob die Richtung." 
Viktor wünschte sich zurück in die Zeiten, als er in der Pubertät war und keine Uhr besaß. Jetzt verdiente er viel Geld und seine Armbanduhr verspottete ihn.
Mr. Smith sprach immer noch. Nein, er suhlte sich in seinem Redeschwall, selbstgefällig und überheblich. Viktor Tomašević arbeitete seit knapp zwei Jahren für Mercantile, nie kam er vor 19 Uhr aus dem Büro, er absolvierte geduldig und gehorsam wie ein dressierter Hund die Geschäftsessen, lachte über die flachen Witze seines Chefs, rückte dabei seine Krawatte zurecht.

„Welch amüsante Anekdote!“, pflegte er zu sagen, doch heute war es anders. Er lehnte sich nach vorne, um auf die Uhr seines Nachbarn zu spähen, die Zeiger schienen direkt aufeinander zu liegen, aufeinander. Das würde Lucija gefallen. Früher hatte sie aufgeregt geschrien: 
„Viktor die Zeiger sind eins, genau jetzt da ich auf die Uhr gesehen habe. Jemand denkt also an mich." Und schon hielt sie ihm drei Finger hin.
„Zieh an einem, los!“ hatte sie bestimmt, und dann verzog sie das Gesicht wenn Viktor den falschen Finger gewählt hatte und somit ein „falscher" Mann gerade an sie dachte. Er schmunzelte, sie hatte sich immer ihre kindische Ader bewahrt.



An all das dachte Viktor und an vieles mehr. Es stimmte wohl, man vergaß nie die Frau mit der man sein erstes Mal erlebt hatte. Wie oft hatte er sich in Gedanken verloren, verfangen, war gestürzt, und dann erklärte er Mira, seiner Ehefrau, wie überarbeitet er war. Manchmal erwischte es ihn eiskalt. Letztens stand er mit ihr in einer dieser Edelboutiquen. Seine Ehefrau hatte aus allen Ecken ausgewählte Kleidung zusammengetragen und sie in einem unübersichtlichen Haufen an der Kasse drapiert. Lumpen nannte Viktor sie, wohl wissend dass er 70 % des Kaufpreises nur für den Namen auf dem kleinen Schild bezahlte.
„4.500 Dollar, bittesehr!“, hörte er die Dame an der Kasse sagen, als er sie anblickte war sie da: Lucija, natürlich nicht sie selbst. Aber diese Frau, sie hatte ein Muttermal über der Oberlippe, genau wie seine Lutka. Es traf ihn wie ein Schlag, er hielt seine American Express in den Fingern, sie schwebte zwischen seinem pochenden Herzen und dem Muttermal, so lange bis ihm Mira die Karte aus den Fingern nahm und sie entschlossen weiterreichte. „Du arbeitest zu viel“, konstatierte sie.

Als Viktor Mr. Smith nicht länger ertragen konnte und da er glaubte, dass an diesem Abend sicherlich keine geschäftlichen Themen mehr besprochen würden, entschuldigte er sich und verließ, schneller als er hätte sollen, den Tisch.

Die verstopfte Avenue voller Taxen, die New York wie kleine gelbe Käfer bevölkerten, lag vor ihm, er hatte sich immer noch nicht an dieses Chaos gewöhnt. Die Autos drückten sich durch das Straßengitter, manchmal ging es allerdings so langsam voran, dass man zu Fuß schneller vorwärts kam. Würde er es denn schaffen, pünktlich zu sein? Er stieg in ein Taxi, nur allzu willig die schwüle Hitze zu verlassen und sich in den kühlen Wagen zu setzen. Sicherlich war er diese hohen Temperaturen gewöhnt, allerdings fröstelte es ihn jetzt schneller als früher, Viktor wusste nicht, ob es deshalb war, weil er älter wurde oder weil er Lutka verlassen hatte. In ihrer Nähe fror er nie und in ihr fror er nie. In seinem Heimatland Jugoslawien stöhnte man erst jenseits der 40 ° C-Grenze. Ja, die Jugoslawen hatten ihren stillschweigenden Pakt mit der Hitze geschlossen. Sie erduldeten sie und dafür lockte sie die Touristen ins Land, spülte Geld in die Kassen und erlaubte es den Einheimischen sich durch Technik Linderung zu schaffen. Die Jugoslawen lebten also in ihren Häusern, hörten das Surren der Ventilatoren schon nicht mehr, machten ein Mittagsschläfchen, schlossen die Wärme aus, versteckten sich unter den Zweigen der Olivenbäume. Sie stachen auf die lubenice, die Wassermelonen, ein, zerteilten das rote Fleisch das offen vor ihnen lag, wie eine Wunde, die bereit war, sauber geleckt zu werden. 
„So sieht Lucijas Geschlecht aus", dachte er, „offen, gerötet und gespalten, nass glänzend und einladend.“

Er erinnerte sich an das erste Mal, als er diese Wunde gesehen hatte.
In diesem Sommer, Ende der Sechziger, sie waren beide sechzehn damals, lag er am Strand von Šibenik. Angestrengt versuchte er den Lärm der Welt auszuschalten, als sie sich über ihn beugte.
„Liebst du die Sonne nicht?" hatte sie gefragt.
„Doch, warum fragst du?"
„Warum liegst du dann im Schatten?"
„Es ist zu heiß, um in der Sonne zu liegen."
„Dann liebst du die Sonne nicht! Du liebst sie nur, wenn sie dir nicht zu heiß ist.", bemerkte sie vorwurfsvoll.
„Ja, aber ich verbrenne sonst, ich habe keinen Sonnenschutz dabei."
Sie wandte sich angewidert ab, um dann hinzuzufügen: 
„Ich auch nicht, aber ich liebe sie, die Sonnenstrahlen meine ich. Sollen sie mich ruhig verbrennen, dann spüre ich sie, weiß, dass sie auf meine Haut getroffen sind. Die Rötung ist eine Spur meiner Liebe, der Beweis, dass ich etwas liebe, auch wenn ich ihm ausgeliefert bin. Das ist sichtbar gewordene Liebe, Viktor, verstehst du?“

Immer war sie so, so extrem und fordernd, nie konnte sie sich mit einem Mittelmaß zufrieden geben. Hartnäckig glaubte sie, dass Viktor nicht wusste was wahre Liebe war und dass sie ihn belehren müsse.

Am Abend darauf saßen sie am Strand hinter einem Stapel aufgetürmter Liegestühle. Ihre Eltern waren beim Abendessen und diskutierten, ein Mahl konnte sich über Stunden hinziehen. Immer wieder steckte man etwas in den Mund, auch wenn man keinen Hunger verspürte, aber ein Tropfen Rotwein hatte noch Platz, oder eine Nachspeise, ein Rinnsal von heißem Kaffee oder noch eine eingelegte Olive, die so verlassen wirkte auf dem großen Teller. Das Essen war nicht nur zur Sättigung gedacht, man kommunizierte miteinander, genoss die Geschmäcker und Gerüche, fühlte die runden Trauben im Mund oder ließ das Eis auf der Zunge zergehen.

Lucija drehte eine Weintraube zwischen ihren Fingern und beobachtete die zarte Haut, die dunkelviolette Farbe. Sogar im Dunkeln schimmerte der kleine Ball in verschiedenen Nuancen. Sie setzte die Traube an Viktors Lippen, schob sie durch den Spalt, der sich öffnete und den Weg freigab.
Viktor schob sie mit der Zunge hin und her, zerbiss sie, schmeckte den süßlichen Saft, dann spuckte er die winzigen Kerne in den Sand.
„Du machst es schon wieder“, bemerkte Lucija, „nie liebst du etwas ganz. Du isst das Fleisch, aber du trennst es von den Kernen, aus denen es gewachsen ist.“ Ihr Muttermal über der Lippe bebte und sah bedrohlich aus.
„Liebst du mich denn? Oder verlässt du mich, wenn dir eine Andere begegnet?“
„Natürlich nicht.“
„Beweise es mir, wie kann ich sicher sein, dass du mich liebst, du sagst nur Worte, die zerfallen, sobald sie deinen Mund verlassen. Worte sind nichts als aneinandergereihte Buchstaben. Ich wünschte du würdest mich lieben, wie ich die Dinge liebe. Ohne Wenn und Aber.“ 
Sie lehnte sich zurück, grub die Füße in den Sand und legte einen unschuldigen und doch fordernden Blick auf, als sie ihren Rock weit hochschob.
„Wir dürfen das nicht.“ stotterte er. 
„Was wenn unsere Eltern..?“

Sie legte ihm eine Hand um den Hals, sie berührte ihn, sog seinen Duft tief nach innen, ließ ihn durch ihre Adern fließen, bis sie merkte, dass sein Körper reagierte, sich erhob und verlangte zu bekommen, was man ihm versprach.
„Sie sind doch im Restaurant, sie suchen nicht nach uns.“ Viktor beugte sich nach vorne, wieso wehrte er sich überhaupt? Hatte er nicht schon vor langer Zeit den Kampf verloren. Jedes Mal wenn er Lucija sah, drehte sein Verstand sich um, ging in die andere Richtung, Viktor bestand dann nur noch aus den Zellen seines Fleisches, fühlte sein Herz pochen und ihm wurde flau im Magen. Immer schon hatte er ihr Haar berühren wollen, es schlängelte sich in großen Wellen über ihre Schultern, war mal dunkelbraun, dann wieder bronzefarben oder stellenweise so wie karamellisierter Zucker. Er wollte schon immer an ihm riechen, traute sich aber nie. Stattdessen drückte er seine Lippen jetzt auf ihr Muttermal, umschloss dann ihre Oberlippe, sog daran wie ein hungriges Baby an der Mutterbrust, und alle Ängste fielen ab, er würde sie lieben, das wusste er jetzt, denn es blieb ihm keine Wahl.

An all das dachte er, als er die 4.500 Dollar zahlte, und an all das dachte er, als er im Taxi saß. Damals hatte er sein erstes Mal erlebt, der Traubengeschmack hatte sich mit dem ihres Speichels vermischt, und Viktor hatte Spuren zwischen ihren Beinen hinterlassen.
Er musste seine Hand auf ihren Mund pressen, damit niemand sie hörte, denn Lucija war immer intensiv. Für sie war die Lust keine, wenn man sie nicht in jeder Faser fühlte, oder zum Meer hinausstöhnen konnte. Deshalb ließ er sie keuchen, ließ sie seine Finger lutschen und beißen. Er selbst stöhnte in den Sand, steckte sein Gesicht soweit er konnte in ihn, als er zum ersten Mal eine Frau von innen fühlte, als sie ihn in sich aufnahm. Nie hatte er es sich erträumen lassen, dass es sich so warm anfühlen würde, es war als wäre er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Ihr Karamellhaar lag ausgebreitet vor ihm und er nahm es in den Mund, bevor er sich vergaß und sein Körper ihm nicht mehr gehorchte.

Auf ihrer Uhr war es schon fast elf und von Viktor keine Spur. Hatte er es sich anders überlegt? Vielleicht hatte er einen Rückzieher gemacht. Sie drückte ihre Hände zusammen bis die Knöchel weiß wurden und zu schmerzen begannen. Die Erinnerungen waren noch so lebhaft vor ihrem inneren Auge. Der Abend vor zehn Jahren, als sie Schluss gemacht hatten, bohrte immer noch kleine Spitzen in ihre Seele. Sie war damals noch Single, aber Viktor war bereits verheiratet, hatte einen Sohn und eine Tochter. Lucija wusste, dass Viktor ein Familienmensch war, er würde seine Frau nicht verlassen, er würde seine Kinder nicht ohne Vater aufwachsen lassen. Aber genauso liebte er auch sie, die Frau, die ihn zuerst hatte. 
Immer wenn der Kummer zu schwer wurde, immer wenn sie in der Badewanne lag, Opern hörte und weinte, dann dachte sie, dass er ihr zuerst gehört hatte. Ein minimaler Trost, aber es war die Wahrheit.

Damals in Zagreb hatte sie gedacht, sie würde ihn nie wieder sehen, nach diesem Streit, nach dem Drama, das ihr für eine Weile den ganzen Atem genommen hatte.
Das Zimmer hatte im Dunkeln gelegen. Sie beide hatten sich geliebt, ihre Körper waren noch verschwitzt und warm. 
Aber sein Blick beachtete sie gar nicht, nicht ihr Haar, nicht die Mulde zwischen ihren Brüsten. Er ließ sich auf den Boden sinken. Manchmal hat man so eine Vorahnung von den Dingen, die gleich passieren und sie wusste, dass der Akt abgeschlossen war und die Nähe, die sich schützend um sie gebunden hatte, löste sich abrupt. Lucija sah sie davonschwimmen, wie ein Boot das jemand losgebunden hatte. Man versucht in solchen Situationen nur noch den Moment auszukosten, bevor man das Ungesagte hören muss. Bevor man hört, was man schon weiß und deshalb schmerzt es, bevor es eigentlich schmerzen kann. Antizipiertes Leid. 
Und dann sprach er die Worte aus, die nichts von ihrer Kraft einbüßen, nur weil man sie erwartet und im Geiste geformt hatte.   
„Das muss ein Ende haben“, hörte sie ihn sagen. Das Wort „Ende“ war glühend heiß, hämmerte in ihren Schläfen, brannte auf der Haut, wie die Sonne Ende der Sechziger. Viktor sprach weiter, aber sie fühlte nur das Ende.


Sie hatte seinen Samen mit einem Taschentuch ganz ruhig von ihren Brüsten gewischt, danach damit ihre Tränen getrocknet. Er hatte ihr Gesicht und ihr Muttermal geküsst, aber was konnte das helfen?
„Du liebst mich wie die Sonne“, sagte sie dann leise. Wenn es dir zu viel wird, dann suchst du dir einen schattigen Platz. Du bist ein Verräter.“

„Nein, nur verheiratet.“ – sagte er lapidar, kühl.
„Du bist keine Frau zum Heiraten Lucija, das mit uns ist Leidenschaft, es hat nichts mit Liebe zu tun, und du weißt, dass es nicht sein darf, was würden denn die Anderen sagen? Wir werden nie Mann und Frau sein!“ Dann kleidete er sich an, trat in den Flur hinaus und zog die Tür leise zu. Danach nahm er ein Jobangebot im Ausland an und schob den Atlantik zwischen sich und Lucija.


Die automatische Glastür öffnete sich um elf Uhr dreizehn. Um elf Uhr vierzehn drückte Lucija sich an Viktor, sah zu ihm hoch, folgte den Linien in seinem Gesicht, fuhr über die glatte, rasierte Haut und lächelte matt.

Um Mitternacht trafen sie in ihrem Hotel ein. Sie legte ihre Hände auf den kühlen Marmorthresen des Empfangs, denn sie zitterten und konnten verraten, dass sie nervös war.
„Guten Abend“, grüßte sie der Rezeptionist. 

„Guten Abend, wir haben reserviert, mein Name ist Viktor Tomašević“. 
„Yes, Sir, dürfte ich ihre Pässe für den Check-in haben?“ Viktor übergab seinen, den er immer im Jackett hatte.
„Sir, Sie haben ja heute Geburtstag! Hier steht 14.07. Herzlichen Glückwunsch!“
Viktor lächelte, ja es war nach Mitternacht, er wurde heute 36 Jahre alt. Er fuhr Lucija übers Haar.
Sie kramte verloren in ihrer Handtasche, alles dauerte zu lange, konnten sie nicht einfach hinaufgehen und sich ausziehen, sie hatte zehn Jahre lang seine nackte Haut nicht gespürt. Schließlich fand sie den Pass und legte ihn auf den Marmor.
Der Rezeptionist blätterte darin „Sie sind? Ach ja, hier steht es: Ja. Mrs. Lucija Tomašević. Die Ehefrau-nehme ich an.“
Die Buchstaben waren tief in das dicke Papier gedruckt, wie oft hatte Lucija sich gewünscht, andere Namen würden dort stehen. Aber es waren nur aneinander gereihte Buchstaben. Wenn man sie aussprach, trug der Wind sie weg.
„Ja, seine Frau.“, log sie.
„Sie wurden am gleichen Tag geboren wie ihr Mann. Am 14. 7. 1953. Congratulations! Das muss ein gutes Zeichen sein! Welch ein Zufall.“
„Ja, wir werden immer darauf angesprochen.“ sagte Viktor, „Lucija, lass uns hinauf gehen.“
Er würde sie wieder lieben, das wusste er jetzt, denn es blieb ihm keine Wahl. Sie waren schon vereint gewesen, bevor sie auf der Welt waren - und er würde diese Bindung nicht durchtrennen.





8. September 2013

Mozart und der Riese – you were brothers



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 Der Riese geht durch den Schnee und trägt einen Blumenstrauß, ein schwerer Gang, sein Freund liegt hier begraben und so viele Jahre hatte er die Trauer in sich getragen, darüber dass alles so kommen musste, wie es gekommen war.

„Schön, dich zu sehen, mein Freund.“, sagt er, am Grab abgekommen und hinterlässt ihm ein Bild, auf dem sie sich umarmen.

Quelle: espn.com


Sie waren Freunde gewesen, die der Krieg und dann ein Unfall für immer auseinanderriss, ohne dass sie sich aussprechen oder versöhnen konnten.

Die Rede ist von zwei Basketball-Legenden: Dražen Petrović und Vlade Divac. Mein Freund meinte, ich könne nicht über sie schreiben, weil ich ihnen nie gerecht werden könne. Er meinte, ich könne nicht einfach zwei, drei Zeilen schreiben und das war´s.

Und tatsächlich muss man, auch wenn man kein Sportfanatiker ist, Achtung vor dem haben, was beide erreicht haben. Beide sind bzw. waren Ausnahmetalente im Basketball, beide machten sich in Exjugoslawien einen Namen, beide wurden mit ihren Teams Weltmeister und Europameister, Divac wurde 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul im jugoslawischen Team Vizeweltmeister, Dražen führte die Teams in denen er spielte in einer Tour zu Erfolgen. Beide wechselten aufgrund ihres Könnens in die USA zur NBA. Beide wurden in die Hall of Fame aufgenommen. Vlade in die FIBA Hall of Fame, Dražen in die der NBA. Dražen war anscheinend ein Virtuose auf dem Spielfeld, der das Spiel dominierte und den Ball kontinuierlich im Korb versenkte, was zu einer durchschnittlichen Punktezahl pro Spiel jenseits von Gut und Böse führte und ihm den Spitznamen „Mozart des Parketts“ einbrachte.

Ich habe wirklich kaum Ahnung vom Basketball, aber ich glaube der Name Dražen Petrović war mir ziemlich schnell ein Begriff, da ich auch Petrović heiße. Ganz egal, wer mich auch in welchem Land auch immer nach meinem Namen fragte…wenn ich ihn aussprach, formte sich ein Lächeln auf dem Gesicht des männlichen Gesprächspartners: „Ah, like in Dražen Petrović . Are you relatives?“ Mir wurde freundlich begegnet und alle sprachen voller Bewunderung über diesen Mann, über den ich nicht viel wusste, aber so wie sie sprachen war mir klar, dass er ein Basketballguru gewesen sein musste, eine Art Gottheit, die durch Basketball virtuos Kunst erschafft.

Vor einiger Zeit stieß ich dann auf diese wundervolle amerikanische Dokumentation, die viele Infos liefert und eine Geschichte erzählt, die mich wirklich sehr berührt hat. Sie zeigt, wie der omnipräsente Jugoslawienkrieg nicht nur Menschenleben zerstört hat, sondern auch eine Freundschaft, die dem Druck von „Ich-bin-Kroate-und-du-Serbe“ (oder andersherum, ganz egal) nicht standgehalten hat. Er hat auch den Sport wie ein Virus infiltriert und Sportler in verschiedene Nationalitäten geteilt, die gerade auf der Weltmeisterschaft in Argentinien die USA weggefegt und den Titel „nach Hause“ geholt hatten (hier erhilet die Freundschaft der zwei Spieler durch den Flaggenvorfall den entscheidenden Knacks, siehe Doku. Aber wäre er nicht sowieso aufgetaucht?) 
Sie hatten allen gezeigt: unser Land stellt in diesem Gebiet eine Koryphäe dar, vor der auch die USA einknicken. Vielleicht tut das Ansehen des Films auch deshalb ein wenig weh. Es taucht wieder einmal der Gedanke auf: Wir waren mal wer, wir waren die Nummer 1, on top of the world – was sind wir geworden? Nichts. Eine Rückentwicklung. Waren wir gemeinsam nicht stärker und besser?
Als Kroatien im Jahr 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona die Silbermedaille holt, fragt sich Vlade zu Recht: „What could have happened if my former team mates and I had played together?“

Vielleicht hätte es irgendwann eine Aussöhnung zwischen Dražen und Vlade gegeben, der in der Doku seine Version erzählt, aber Dražen Petrović starb im Juni 1993 im Alter von nur 28 Jahren ausgerechnet auf einer deutschen Autobahn in einem Wagen, der von seiner damaligen Freundin Klara Szalantzy gelenkt wurde. Sie überlebte und ehelichte später Oliver Bierhoff.

Vlade spricht sehr respektvoll über seinen ehemaligen Freund, verliert kein schlechtes Wort über ihn und zeigt eine Größe, die ihn glaubwürdig macht.
Leider wurde die Doku nicht überall positiv aufgenommen und vor allem in Kroatien teilweise als Propaganda bezeichnet. Sie waren keine Freunde, heißt es zum Beispiel. Dražens Mutter und Bruder bestätigen allerdings, dass es zwischen Vlade und Dražen eine sehr enge Freundschaft gegeben hatte.

„I am a Serb, but I regard myself as from Yugoslavia.“, sagt Vlade.
„I am from Croatia.“, sagt Dražen bestimmt.
Is this so important? You were brothers...


Anm.:
Dražen: abgeleitet von drag, draga, drago = lieb, teuer
Divac (2,16 m): enthält „div“ = der Riese; diviti se=staunen, etw. bewundern


Die gesamte Doku Once brothers, engl. mit Untertiteloption:



Divac über die Freundschaft zu Dražen:
 

The flag incident:



Nachrichten zum Tod von Dražen Petrović:



4. September 2013

Ihr braucht keine Schuhe, ihr werdet gleich tot sein.




Soll ich nur die Bilder wirken lassen? Soll ich etwas dazu sagen? Brauche ich einen pseudobetroffenen Text, triefend vor Empathie, obwohl der Krieg seit ca. 20 Jahren vorbei ist? Bin ich denn betroffen? Kann ich mich hineinversetzen in die Lage? Darf ich überhaupt etwas zum Krieg sagen oder würde ich alle beleidigen, die ihn miterleben mussten?

Ich habe mich für einen Text entschieden, entschieden, dass ich etwas über Joe Saccos Buch schreiben darf. Nein, ich weiß nicht, wie sich Traumata anfühlen, die durch Kriege entstehen und die eigene Seele in einen Abgrund reißen, aber ich kann es mir vorstellen. Ein wenig.

Es muss 1993 oder 1994 gewesen sein, als ich im Auto meines Vaters saß, das mitten auf einer Brücke in Brcko stand, über die am Himmel helle Granatenblitze zuckten. Aus irgendeinem Grund hatten meine Eltern beschlossen, während des Krieges nach Bosnien zu fahren. Sei es, dass sie ihre Familie vermissten und zeigen wollten: ich habe dich nicht vergessen, sei es, dass sie ihr Haus sehen wollten oder das, was man nicht begreifen kann – die Auflösung der Heimat. Den Fall des starken und schönen Landes.

Damals befand sich Brcko in einem engen Korridor und links und rechts hatten die „anderen“ Stellung bezogen, um den schmalen Durchgang vom Rest des serbisch dominierten Gebietes abzuschneiden. Ich hatte in meinem Leben noch nie so eine markdurchdringende Angst. Jedes Mal, wenn uns ein Auto mit deutschen Kennzeichen entgegenkam, bettelte ich meinen Vater an, aussteigen zu dürfen, um zurückzufahren.

Einige Tage später saßen wir bei meiner Tante auf dem Sofa und dieses Geräusch der fliegenden Granaten zerriss den Himmel. Ich zuckte und war innerlich erstarrt, aber meine Tante erklärte mir, diese Granate sei ganz weit weg. Sie war zur Expertin geworden, sie konnte einschätzen, wie weit entfernt von ihrem Haus das Geschoss einschlagen würde. An mehr erinnere ich mich nicht, aber an diese Furcht.


Also male ich mir aus, wie es in Gorazde gewesen sein muss und die Comicreportage „Bosnien“ (auf engl. Safe area Gorazde) von Joe Sacco liefert die Bilder dazu.

Innerhalb von ein paar Stunden haben sowohl ich als auch mein Freund das Buch verschlungen. Normalerweise lese ich keine Literatur über den Krieg. Ab und zu sehe ich mir Reportagen an, aber ich meide trockene Bücher, in denen jeder Schritt jeder Partei über die gesamten Jahre dokumentiert wird.





Aber diese Reportage liest sich wirklich runter, nimmt einen durch die vielen Bilder sofort gefangen und zeigt, wie das Leben in der Enklave Gorazde war. Sacco erhebt keinen Vollständigkeitsanspruch, wie er schreibt, aber er verbrachte als Journalist selbst viel Zeit in dieser belagerten Stadt und hielt in diesem Buch seine eigenen Eindrücke fest, die er durch etwas Geschichte und die Erläuterungen seines Freundes Edin ergänzt hat.

Ich habe wirklich versucht, mich auf die Story einzulassen. Denn wie ist es doch so schön: in den Nachrichten wird über ein Erdbeben berichtet und über zahlreiche Tote, aber man zuckt mit den Schultern, war halt jetzt so, und weiter geht’s. Das wollte ich mit diesem Buch nicht machen. Ich wollte aber, wie ich geschrieben habe, auch nicht pathetisch werden und mit dem erhobenen Zeigefinger sagen: böser Krieg, um dann in Depressionen zu versinken. Dem Buch gelingt meiner Meinung nach diese Gratwanderung. Dadurch, dass die Bilder gezeichnet sind, gewinnt man die nötige Distanz, aber da die Ereignisse sich nun einmal zugetragen haben, treffen sie emotional dennoch.


Vielleicht möchte ich deswegen nichts über den Krieg lesen, muss ich denn abgetrennte Köpfe sehen? Es wurde ja nicht einfach Krieg geführt und die Genfer Konventionen wurden beachtet, vielmehr scheint es, als habe der Krieg die Tore zu den abartigen Abgründen menschlicher Seelen aufgestoßen. Ich kann nicht einfach etwas lesen oder sehen, ohne zu denken: „Die haben das wirklich getan. Das ist real. Die Frau verbrachte wirklich neun Stunden im eisigen Fluss, weil sie Angst um ihr Leben hatte und das war nicht im letzten Jahrhundert.“ Manchmal erzählt mir meine Cousine, was ihr Vater an der Front erlebt hat und wie Frauen ihre Kinder in Flüsse warfen und ertrinken ließen, nur damit sie nicht gequält werden und dann bleibe ich immer sprachlos zurück und schäme mich einmal mehr für das gesamte ex-jugoslawische Volk.

Diese Gräueltaten kann man in „Bosnien“ wie durch einen schützenden Filter betrachten, auch wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen und nur stellenweise vorkommen.





Jemand hat auf Facebook geschrieben, teils hätte das Buch Schwächen, da Milosevic beispielsweise als alleiniger Schuldiger dargestellt würde. Mag sein, ich finde aber, dass Sacco neutral bleibt, es wenigstens versucht und einfach die Situation in Gorazde beobachtet hat.

Während der Lektüre lernt man viel und erfährt, wie der Alltag in dieser Ausnahmesituation aussieht.



Ich für meinen Teil wusste nicht einmal, wo Gorazde liegt oder, dass während des Krieges Clubs dennoch ab und an geöffnet hatten, Rakija floß in Strömen, junge Frauen wünschten sich trotz der Nahrungsmittelknappheit eine neue Levi´s 501 (wie seltsam die menschliche Psyche doch ist) und in all der Grausamkeit, gab es noch Menschlichkeit:




Die Geschichte endet mit dem Frieden, fast hätte ich gesagt: wie alle guten Geschichten...

Aber, was war am Krieg schon gut?

 Peace, oh oh yeay yeay, I love you more than I can say.











 


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P. S. Diesen Post widme ich meinen Eltern, die ausgewandert sind und mich so unwissenderweise davor bewahrt haben, diesen Irrsinn miterleben zu müssen und den glücklichen Umständen, dass niemand aus meiner Familie durch den Krieg sterben musste.

Dankbar.

3. September 2013

Bohnensuppe verbindet







One soup – one love


Wir saßen an einem Samstag mit vollgeschlagenen Bäuchen im Ethnodorf Kotromanićevo selo. Es gab fast ausnahmslos Bohnen für alle, die Version mit Rosmarin war ungewöhnlich, aber wirklich sehr lecker (Ich habe das Gefühl, wir wurden bei der Rechnung ein wenig über´s Ohr gehauen, aber das hat man davon, wenn man am Tisch Deutsch spricht...)





 Und gerade als ich noch ein paar Fotos machen und die kleinen Häuschen erkunden wollte, bemerkte ich die vielen Menschen, Kameras und Mikrofone. Ich habe mir erst vor Kurzem wieder vorgenommen, mehr mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren und nicht schüchtern zu sein, also schnappte ich mir einen der jungen Herren, die alle in weißen T-Shirts herumrannten.

„Was ist denn hier los?“, fragte ich.

Er zeigte auf sein T-Shirt und erklärte mir, er koche Bohnensuppe.

„Ach so“, dachte ich, „die haben also das ganze Paprikapulver aufgebraucht, nach dem wir vorhin gefragt haben“.

„Melting pots BiH“ stand auf seinem T-Shirt und vor ihm blubberte es in einem gusseisernen alten Kessel über dem offenen Feuer.

Die Organisation Rotor für die Entwicklung des Tourismus in der Region hatte ein interethnisches Camp für junge Menschen aller drei Hauptreligionen in Bosnien organisiert. Vom 15.08. bis zum 19.08.2013 sollten 18- bis 25-jährige lernen, wie wichtig Gegensätze sein können, das friedliche Miteinander und Toleranz gegenüber anderen sollten gefördert werden. Dazu kochten sie eben Bohnensuppe in Kesseln (pots). Was für ein schönes Wortspiel und eine schöne Idee. Während der fünf gemeinsamen Tage besuchte die Gruppe den salzigen See in Tuzla, die Burg in Doboj (www.dobojskatvrdjava.rs.ba), das Ethodorf, in dem ich sie traf, erhielt kostenlose Karten für das internationale Handballturnier und natürlich durfte auch das klassische Gitarrespielen am Lagerfeuer nicht fehlen. Wie früher, als wir Lieder von Plavi Orkestar gesungen haben. Bolje biti pijan, nego star!
 

Eröffnet wurde das Camp unter anderem von der Vertreterin der amerikanischen Botschaft in Bosnien Emily Armitage und Enes Suljkanović, Vizepräsident der Republika Srpska. Das Projekt, das auch bosanski lonac genannt wird, wird von den USA, dem melting pot schlechthin, mitfinanziert (endlich einmal etwas Sinnvolles, wenn es schon zweifelhafte Entscheidungen während des Krieges gab).

Ich habe mich wirklich gefreut, so eine Aktion in Bosnien zu sehen, es gab mir irgendwie Hoffnung, dass alles einmal besser werden könnte, dass man den Hass besiegen kann.

Schade nur, dass das Event anscheinend so etwas Besonderes ist, dass das Fernsehen vor Ort war. Einerseits ist es natürlich toll, andererseits denke ich, dass es selbstverständlich sein sollte, dass man mit Mitmenschen anderer Konfession Zeit verbringt, aber dem scheint immer noch nicht so zu sein. Dennoch ist das Camp eine fantastische Idee, wenigstens die jungen Leute, die den Krieg nicht erlebt haben, sollen nicht mit diesem Nationalismus aufwachsen.




Und nicht vergessen, wenn ihr das nächste Mal Bohnensuppe esst: ladet eure Nachbarn der anderen Religionen ein, wir sind alle Bohnen im selben Topf :-)








2. September 2013

Wilder Balkan

Man kann den Balkan nicht zähmen, der Boden ist vollgesogen vom Blut all der Kriege und die Natur wuchert, um die Gefallen in ihren Schoß zu nehmen.


Fast mystisch anmutende Landschaften à la Herr der Ringe. 

Wälder, Schluchten, Berge, Flüsse und Seen.

Üppiges Grün, karges Grau, fließend, schroff, hoch und tief. Wild und ungezähmt.

Der wilde Balkan.