4. September 2013

Ihr braucht keine Schuhe, ihr werdet gleich tot sein.




Soll ich nur die Bilder wirken lassen? Soll ich etwas dazu sagen? Brauche ich einen pseudobetroffenen Text, triefend vor Empathie, obwohl der Krieg seit ca. 20 Jahren vorbei ist? Bin ich denn betroffen? Kann ich mich hineinversetzen in die Lage? Darf ich überhaupt etwas zum Krieg sagen oder würde ich alle beleidigen, die ihn miterleben mussten?

Ich habe mich für einen Text entschieden, entschieden, dass ich etwas über Joe Saccos Buch schreiben darf. Nein, ich weiß nicht, wie sich Traumata anfühlen, die durch Kriege entstehen und die eigene Seele in einen Abgrund reißen, aber ich kann es mir vorstellen. Ein wenig.

Es muss 1993 oder 1994 gewesen sein, als ich im Auto meines Vaters saß, das mitten auf einer Brücke in Brcko stand, über die am Himmel helle Granatenblitze zuckten. Aus irgendeinem Grund hatten meine Eltern beschlossen, während des Krieges nach Bosnien zu fahren. Sei es, dass sie ihre Familie vermissten und zeigen wollten: ich habe dich nicht vergessen, sei es, dass sie ihr Haus sehen wollten oder das, was man nicht begreifen kann – die Auflösung der Heimat. Den Fall des starken und schönen Landes.

Damals befand sich Brcko in einem engen Korridor und links und rechts hatten die „anderen“ Stellung bezogen, um den schmalen Durchgang vom Rest des serbisch dominierten Gebietes abzuschneiden. Ich hatte in meinem Leben noch nie so eine markdurchdringende Angst. Jedes Mal, wenn uns ein Auto mit deutschen Kennzeichen entgegenkam, bettelte ich meinen Vater an, aussteigen zu dürfen, um zurückzufahren.

Einige Tage später saßen wir bei meiner Tante auf dem Sofa und dieses Geräusch der fliegenden Granaten zerriss den Himmel. Ich zuckte und war innerlich erstarrt, aber meine Tante erklärte mir, diese Granate sei ganz weit weg. Sie war zur Expertin geworden, sie konnte einschätzen, wie weit entfernt von ihrem Haus das Geschoss einschlagen würde. An mehr erinnere ich mich nicht, aber an diese Furcht.


Also male ich mir aus, wie es in Gorazde gewesen sein muss und die Comicreportage „Bosnien“ (auf engl. Safe area Gorazde) von Joe Sacco liefert die Bilder dazu.

Innerhalb von ein paar Stunden haben sowohl ich als auch mein Freund das Buch verschlungen. Normalerweise lese ich keine Literatur über den Krieg. Ab und zu sehe ich mir Reportagen an, aber ich meide trockene Bücher, in denen jeder Schritt jeder Partei über die gesamten Jahre dokumentiert wird.





Aber diese Reportage liest sich wirklich runter, nimmt einen durch die vielen Bilder sofort gefangen und zeigt, wie das Leben in der Enklave Gorazde war. Sacco erhebt keinen Vollständigkeitsanspruch, wie er schreibt, aber er verbrachte als Journalist selbst viel Zeit in dieser belagerten Stadt und hielt in diesem Buch seine eigenen Eindrücke fest, die er durch etwas Geschichte und die Erläuterungen seines Freundes Edin ergänzt hat.

Ich habe wirklich versucht, mich auf die Story einzulassen. Denn wie ist es doch so schön: in den Nachrichten wird über ein Erdbeben berichtet und über zahlreiche Tote, aber man zuckt mit den Schultern, war halt jetzt so, und weiter geht’s. Das wollte ich mit diesem Buch nicht machen. Ich wollte aber, wie ich geschrieben habe, auch nicht pathetisch werden und mit dem erhobenen Zeigefinger sagen: böser Krieg, um dann in Depressionen zu versinken. Dem Buch gelingt meiner Meinung nach diese Gratwanderung. Dadurch, dass die Bilder gezeichnet sind, gewinnt man die nötige Distanz, aber da die Ereignisse sich nun einmal zugetragen haben, treffen sie emotional dennoch.


Vielleicht möchte ich deswegen nichts über den Krieg lesen, muss ich denn abgetrennte Köpfe sehen? Es wurde ja nicht einfach Krieg geführt und die Genfer Konventionen wurden beachtet, vielmehr scheint es, als habe der Krieg die Tore zu den abartigen Abgründen menschlicher Seelen aufgestoßen. Ich kann nicht einfach etwas lesen oder sehen, ohne zu denken: „Die haben das wirklich getan. Das ist real. Die Frau verbrachte wirklich neun Stunden im eisigen Fluss, weil sie Angst um ihr Leben hatte und das war nicht im letzten Jahrhundert.“ Manchmal erzählt mir meine Cousine, was ihr Vater an der Front erlebt hat und wie Frauen ihre Kinder in Flüsse warfen und ertrinken ließen, nur damit sie nicht gequält werden und dann bleibe ich immer sprachlos zurück und schäme mich einmal mehr für das gesamte ex-jugoslawische Volk.

Diese Gräueltaten kann man in „Bosnien“ wie durch einen schützenden Filter betrachten, auch wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen und nur stellenweise vorkommen.





Jemand hat auf Facebook geschrieben, teils hätte das Buch Schwächen, da Milosevic beispielsweise als alleiniger Schuldiger dargestellt würde. Mag sein, ich finde aber, dass Sacco neutral bleibt, es wenigstens versucht und einfach die Situation in Gorazde beobachtet hat.

Während der Lektüre lernt man viel und erfährt, wie der Alltag in dieser Ausnahmesituation aussieht.



Ich für meinen Teil wusste nicht einmal, wo Gorazde liegt oder, dass während des Krieges Clubs dennoch ab und an geöffnet hatten, Rakija floß in Strömen, junge Frauen wünschten sich trotz der Nahrungsmittelknappheit eine neue Levi´s 501 (wie seltsam die menschliche Psyche doch ist) und in all der Grausamkeit, gab es noch Menschlichkeit:




Die Geschichte endet mit dem Frieden, fast hätte ich gesagt: wie alle guten Geschichten...

Aber, was war am Krieg schon gut?

 Peace, oh oh yeay yeay, I love you more than I can say.











 


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P. S. Diesen Post widme ich meinen Eltern, die ausgewandert sind und mich so unwissenderweise davor bewahrt haben, diesen Irrsinn miterleben zu müssen und den glücklichen Umständen, dass niemand aus meiner Familie durch den Krieg sterben musste.

Dankbar.

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