13. Februar 2016

Alles, was wir geben mussten



Alles, was wir geben mussten

Nicht nur meine Eltern, die vor mehr als 35 Jahren eingewandert sind auf der Suche nach Arbeit, nein, auch ich: wir haben viel opfern müssen, um dieses Leben hier zu leben.

Wie ich hier geschrieben habe, bin ich Deutschland unendlich dankbar und liebe es auf meine Weise, aber so eine Emigration hat eben auch Nachteile.

Lasst uns so anfangen: Im Herbst 2013 war ich in Amsterdam und aus irgendeinem seltsamen Grund fühlte ich mich komplett fremd. Ich hatte schon andere Länder auf anderen Kontinenten bereist, aber zum ersten Mal fühlte ich eine komische Distanz. Zwar klang Niederländisch ein wenig wie Deutsch, aber dennoch verstand ich wenig.
Zwar ähnelte Holland Deutschland, dennoch waren da auch augenscheinliche Unterschiede. Wieso haben die keine Gardinen, dachte ich. Und ist es hier noch einmal kälter, als in München?
Wieso haben die keine Gehsteige dort vor dem Haus und ich stehe gleich in der Küche?
Was ist das, das sie da essen?

Zum ersten Mal überhaupt musste ich daran denken, wie sich meine Eltern wohl gefühlt haben. Mein Vater war 22 als er nach Deutschland kam, fast noch ein Teenager. Meine Mutter war etwas älter.
Sie hatte nie Deutsch gelernt, sie waren auf dem Land aufgewachsen und auch das Leben in einer Stadt nicht gewohnt. Meine Mutter erzählte mir, sie hat den Ort bei München gewählt, weil ihre Bekannten dorthin fuhren, um bei Rodenstock zu arbeiten und für sie war das ein Trost, denn sie wollte nicht alleine sein und hatte Angst vor der Einsamkeit, sie wusste auch nicht, wie es in diesem Deutschland sein würde und was sie da erwartet.

Meine Eltern gingen freiwillig, wenn man es freiwillig nennen kann, wenn es zu wenige Jobs gibt und du dein ganzes Leben lang in Armut verbracht hast. Sie hatten immer zu Essen und musste nie hungern, aber viel war auch nie da.
Meine Mutter hat ihr erstes Kind ohne medizinische Versorgung in einem Haus ohne Strom und ohne fließend Wasser, ohne Bad und ohne Heizung auf die Welt gebacht. Das Haus hatte zwei Räume und die Familie war zu siebt.

Irgendwann sind Gastarbeiter also nach Deutschland gekommen. Viele begleitet eine Unsicherheit ein Leben lang, eine Art „Kuschen“ vor den Deutschen, das habe ich immer wieder erlebt. Sie sprechen die Sprache nicht und bevor ihr wettert: Hätten sie halt Deutsch gelernt...ja, das haben sie. Aber viele hatten Vollzeitjobs, manche hatten mehrere und haben so viel gelernt, wie sie konnten. Wie soll eine Frau, die auch in Exjugoslawien nur ein paar Jahre oder gar nicht in die Schule gegangen ist, die deutsche Grammatik pauken? Sie konnte nicht einmal richtig im Pass unterschreiben.
Gastarbeiter haben sehr viel gearbeitet, denn das primäre Ziel war es auch, ein Haus in der Heimat zu bauen. Zwei Jobs waren keine Seltenheit. Ich habe meine Mutter so oft so müde gesehen, was hätte ich ihr sagen sollen: Lern jetzt Deutsch?
Ich kann mich nicht erinnern, dass sie oder mein Vater auch nur einen Tag arbeitslos waren, von Sozialhilfe gelebt hätten oder viel Zeit für Hobbies hatten.
Zum Deutschlernen haben sie den Fernseher genutzt und eben anderen zugehört und ich mache ihnen keinen Vorwurf. Aber diese Sprachbarriere bedeutet Stress. Wie erkläre ich dem Arzt ganz genau, was ich habe? Wie fülle ich dieses Formular aus?
Muss ich diesen Betrag überweisen oder bekomme ich den zurück?
Für die zweite Generation ist das alles ganz klar, aber für die erste war es das nicht und deren Kinder mussten später den Dolmetscher oder Übersetzer spielen.

Nicht alle, aber viele hatten nur jugoslawische Freunde und keine deutschen, mit denen sie die Sprache hätten üben können. Warum?
Weil sie Heimweh hatten, weil sie Jugoslawien nie zuvor verlassen hatten, weil alles fremd war und für viele eine Überforderung. Es waren keine Studierten die kamen. Es waren einfache Menschen.
Sie haben das bisschen Vertraute gesucht, das ihnen ein besseres Gefühl gab. Das habe ich gelernt in meinen 37 Jahren, dass viele nicht das Selbstbewusstsein hatten, das sie gebraucht hätten oder das dicke Fell.

Immer wieder habe ich Jugoslawen gesehen, die Angst vor Behörden hatten, die sich in der Hierarchie mit den Deutschen ganz unten gesehen haben und bloß keinen Ärger haben wollten. Oft wurde eine Entscheidung eines Amtes nicht mal hinterfragt. Oft musste ich mir anhören: Snježana šuti. (Snježana, sei still). Bloß nicht aufmucken, bloß nichts verlangen. Zufrieden sein mit dem, was man bekommt. Bescheiden sein, fleißig arbeiten. Ich kannte eine Familie, die jahrelang Schimmel in der Wohnung hatte. Sie hatten einmal angefragt, ob dieser entfernt wird. Als sich der Eigentümer geweigert hat und meinte, sie seien doch selbst schuld, weil sie falsch gelüftet hätten, haben sie nie wieder nachgefragt und es hingenommen.

Dann, wenn der Sommer kam und man nach Hause nach Jugoslawien fuhr, dann erst konnten sich viele entspannen, erst dort wussten sie, das macht man so, das ist das und das läuft so und so und ich kann sprechen, ohne wie ein dummer Ausländer zu klingen.

Du bist natürlich als Ausländer aufgefallen. Die Gastarbeiter hießen anders, sie sahen vielleicht anders aus, sie hatten einen Akzent und mussten auch etwaige Ausländerfeindlichkeiten aushalten, dabei aber gleichzeitig nicht darauf eingehen oder sich provozieren lassen.
Ich habe immer steif und fest behauptet, dass ich mit Ausländerfeindlichkeit nicht konfrontiert wurde. Einmal hat eine Lehrerin zu mir gesagt, ich solle doch zurück nach Jugoslawien gehen, wenn es mir hier nicht passt. Es ging um die Aussprache meines Namens, ich hatte es gewagt, sie zu korrigieren. Dennoch haben andere diese Feindlichkeit erleben müssen. Fremdenhass gibt und gab es leider immer und überall. Vielleicht ist es an mir auch einfach abgeprallt und ich habe dem keine große Beachtung geschenkt.

Zahlreiche Gastarbeiter haben ihre Kinder zurückgelassen und sie nur gesehen, wenn sie Heim fuhren und das lief dann so: Fahre ich „runter“, weil ich meine Kinder vermisse oder bleibe ich lieber hier und spare mir die Kosten, damit ich mehr Geld an meine Familie senden kann? Je öfter der Weg hin und zurück, umso weniger blieb vom nicht gerade üppigen Lohn übrig. Eine Strecke von München in die Nähe von Banja Luka ist nicht so lang, aber was ist, wenn man in Hamburg lebt und die Kinder in Anatolien oder in Montenegro? Manche Kinder haben ihre Eltern oder ein Elternteil Monate oder gar Jahre nicht gesehen. Eine Frau sagte mir, dass ihre Tochter sich immer schreiend an sie klammerte und den Rock nicht loslassen wollte. Sie musste sich mit Gewalt losreißen und ist jedes Mal weinend in das Auto zurück nach Deutschland gestiegen und hat dann den gesamten Weg bis nach München geweint.
Die Beziehungen zwischen diesen Kindern und den Eltern wurden dann nie so eng, wie sie es hätten sein können. Ich habe Nachrichten bekommen, in denen von Misshandlungen und Einsamkeit die Rede war. Die Verwandten, die die Kinder betreuten waren nicht immer die beste Wahl und das deutsche Geld, das geschickt wurde, konnte die gemeinsame Zeit nie ersetzen, die fehlte. Aus einer geplanten kurzen Zeit wurden oft Jahre, bis das Kind schließlich erwachsen war und seiner eigenen Wege ging.

Und nicht nur das: meine Familie ist beispielsweise auf mindestens fünf Länder verstreut. Geburtstage, Weihnachten..ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester allein. Keine Cousine, keine Oma, keine Tante und kein Onkel. Ich habe mich immer nach einer Familie gesehnt. Wenn es meinem Papa zu bunt wurde, dann hat er uns ins Auto gesetzt und ist von Bayern bis nach Schweden gefahren, nur um seine Schwester zu sehen. Aber auch das war nicht immer drin. Wie oft hätte ich den einen oder anderen gern angerufen, aber unsere Leben spielen sich so weit von dem des anderen ab, dass ich einfach kein Teil des Alltags bin. Ich verpasse, wie deren Kinder groß werden und bin eher wie eine Bekannte. Wir sehen uns ab und zu, aber die Entfernungen sind zu weit, um ein richtig enges Verhältnis aufzubauen.

Ohne die Familie – wie viele von euch mussten so leben? Und dann die moralische Verpflichtung, der Familie am Balkan Geld zu schicken, damit auch sie besser leben kann. 
In Deutschland haben sich die meisten sehr wenig gegönnt, und haben mit ihrem Gehalt zig Familienmitglieder mitversorgt. Aus Liebe. Aus Respekt. Aus Mitgefühl. Sie haben auf Urlaube verzichtet, auf größere Wohnungen und erst Recht auf Luxus.

Nicht zu vergessen sind auch die Spannungen mit den Kindern. Nehmen wir mich. Ich bin in Bayern geboren und aufgewachsen, ich denke ganz anders, als viele Jugoslawen aus Exjugoslawien, auch anders als viele meiner Cousinen, die so alt sind wie ich oder sogar jünger.

Meine Eltern hatten eine Kultur, ich eine ganz andere. Dass das irgendwann zu Konflikten führt, ist klar. Gott sei Dank sind meine Eltern tolle Menschen, denen die Liebe zum Kind immer wichtiger war, als gesellschaftliche Normen, aber das war nicht überall so. Es kam vor, dass einigen, der deutsche Lebenswandel zu modern war und dann saß man schnell im Bus zurück zur Oma oder fand sich in der Türkei bei Verwandten wieder und von schlimmeren Fällen ganz zu schweigen.

Andere Länder, andere Sitten. Kultur-Clash vom Feinsten, den man auch erst einmal aushalten muss.

Ich persönlich halte nicht viel von Religion beispielsweise. Jetzt ist es aber auf dem Balkan so, dass die sehr sehr wichtig ist, ohne weiter darauf einzugehen.
Stell dich mal hin und sage deiner jugoslawischen, bosnischen, katholischen, orthodoxen, was auch immer Familie, dass du nicht an Gott glaubst und dass du für Schwulenrechte bist oder sag deinem Exjupartner, dass du männliche (platonische) Freunde haben möchtest. Gar nicht so leicht. Auch bei vielen nicht, die hier geboren und aufgewachsen sind. Sobald ich sage, dass ich Atheistin bin, ein Kind habe und nicht verheiratet bin, kann das dazu führen, dass man in sozialen Netzwerken entfreundet wird. Religion und Kultur sind dicker als Blut. Es kommen Sprüche wie: Du bist ein echter Schwabo geworden, du bist gottlos und führst kein ehrenhaftes Leben. Ich sehe das eher so, dass Moral nichts mit Religion zu tun hat, aber nun gut. Jedem das seine.

Da ich immer meinen eigenen Kopf hatte, habe ich einfach stur meinen Weg verfolgt, aber es gibt nun einmal Frauen oder Männer, die haben geheiratet, wen der Vater vorschrieb, sie haben sich nicht getraut, eine Ehe mit jemandem der anderen Religion einzugehen und auch das kam in meinem Freundeskreis vor und zwar nicht nur einmal.

Willst du gegen diesen Strom schwimmen, musst du eine „Mir egal“-Haltung einnehmen und damit leben, dass du dich von denen entfremdest, die aus ihren etwas altmodischen Ansichten nicht heraus können. Das ist kein reines jugoslawisches Problem. Aber manchmal denke ich: Vielleicht wäre ich anders, wäre ich in Bosnien aufgewachsen und nicht hier. Habe ich die Toleranz und das westliche Denken aus Deutschland verinnerlicht? Ich glaube nun einmal nicht an Hellseher und an crne magije, ich ehre keine Geistlichen nur weil es Geistliche sind und möchte kein gemeinsames Facebook-Profil mit meinem Partner. Ich lehne supa, sarma, kupus salata und pecenje auf meiner Hochzeit ab, und es ist mir egal, sta ce ljudi reci.
Deutsche Sichtweisen?

Das Nächste ist, dass ich genau deswegen, wie so oft geschrieben, auf meiner Reise nach Jerusalem nie auf einem Stuhl sitze, aber im Grunde auch nicht auf zwei, sondern immer dazwischen. Ich kann mich nicht mit Bosnien identifizieren, aber auch nicht zu 100 % mit Deutschland.
Das bedeutet es, wenn die eigenen Eltern auswandern. Für manche mag das kein Problem darstellen, für andere sehr wohl.
Wollen wir nicht alle ganz fest zu einer Gruppe dazugehören und diese Verbundenheut fühlen? Ich fühle sie nicht.

Wo gehöre ich denn jetzt hin?
Wenigstens meine Eltern wussten, wo ihre Heimat war.
Viele Gastarbeiter hatten unter dem erwähnten Heimweh zu leiden, mehr als ich es mir vorstellen kann. Es gibt Studien und Berichte über diese Heimat-Nostalgie, die sich zu einer ernsthaften Depression ausweiten konnte. Die Gastarbeiter, die heute alt und in Rente sind, fristen nicht selten ein trostloses Dasein in westlichen Pflegeheimen ohne die feste Struktur ihrer Großfamilie. Auf dem Land kümmert sich nämlich kein Altersheim um dich, sondern deine Verwandten.

Immer wieder höre und sehe ich wie Renter in Exjugoslawien ihr Leben genießen. Sie haben einen Garten, einen Hund oder andere Tiere, sie sind viel draußen in der Natur und haben ihre Freunde. In Deutschland verläuft das oft ganz anders. Sie sitzen dann in der Zwei- oder Dreizimmerwohnung und langweilen sich, gehen höchstens spazieren, um den Tag herumzubringen. Im Großen und Ganzen sind sie nur aus zwei Gründen hier, um die eigenen Kinder und Enkel zu sehen, die noch hier leben, oder um zum Arzt zu gehen. Aber das Heimweh ist immer da bzw. das Gefühl, in Deutschland nicht zu Hause zu sein. Und wenn sie in der Heimat sind, dann vermissen sie die Kinder, die in Deutschland leben.

Deutschland ist ein tolles Land und noch einmal: Ich bin über alle Maßen froh, hier zu sein, aber die Gastarbeiter kamen erstens nicht ungebeten und zweitens haben sie ihre Opfer bringen müssen und das sollte auch einmal gewürdigt werden, denn das lese ich nirgends.

Heute kommen Flüchtlinge nach Deutschland und auch sie müssen ihren Platz hier finden. Mir ist es ein Anliegen zu sagen: Seid sensibel und bedenkt, welche Opfer sie geben mussten. Sicherlich mehr, als die Gastarbeiter und deren Kinder ...












4 Kommentare :

  1. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  2. Hallo :)

    Keine Kommentare bisher? Wundert mich sehr, denn ich bin mir zu 100% sicher, dass extrem viele Menschen so fühlen. Ich auch. 

    Danke für diesen tollen Bericht und das teilen deiner Gefühle und Gedanken. 

    Ganz viele liebe Grüße an dich

    Dragi

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  3. Danke für diesen Beitrag! Unterschreibe (fast) jedes Wort. Genau so ist das mit uns Jugos (gewesen). Viele Grüße Snezana

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