Der Boden hob und senkte sich, kam ihr entgegen, nur um dann wieder schlagartig
abzufallen.
Er atmete, er
pulsierte, bebte und wackelte.
„Warum nur habe ich immer
noch Angst?", dachte sie.
„Es ist das sicherste
Transportmittel. Aber es sind so viele Tonnen Stahl. Wie viel mochte so ein
Flugzeug wiegen? Und all diese Menschen in ihm? Wenn 400 Leute hineinpassten?
Wenn jeder um die 80 kg wöge? Und dieses Ungetüm hob sich bedenkenlos empor in
die Lüfte, die ganzen Tausende von Kilogramm hielten es nicht auf, und nicht die
fetten Menschen an Bord und nicht das Gepäck der fetten Menschen...."
Sie
sah wieder aus dem kleinen ovalen Fenster, der Boden atmete immer noch. „Wenn
wir jetzt abstürzen, dann sehe ich Viktor nie mehr, und was soll Danijel
denken, warum ich in dieser Maschine saß?“
Die Lichter
schwirrten nur so am Fenster vorbei, Lichter eines fremden Landes, in dem sie
noch nie zuvor gewesen war. Es hatte Viktor Schutz geboten, Schutz vor ihr und
hatte ihn aufgenommen, um ihm Trost zu spenden, seinen Verlust zu lindern und
ihn glauben zu machen, dass die vielen Kilometer etwas bewirken könnten.
Wozu gab es eigentlich Uhren
ohne Ziffern? Hatte seine Uhr nicht eine stolze Summe gekostet? Er konnte die
Temperatur ablesen, das Datum, aber es waren keine Ziffern dort und die Zeiger
zeigten ins Leere, sie schienen zu sagen:
„Rate doch, ob es zehn ist oder schon
elf, wir zeigen dir grob die Richtung."
Viktor wünschte sich zurück in die
Zeiten, als er in der Pubertät war und keine Uhr besaß. Jetzt verdiente er viel
Geld und seine Armbanduhr verspottete ihn.
Mr. Smith sprach immer noch. Nein, er suhlte sich in seinem Redeschwall,
selbstgefällig und überheblich. Viktor Tomašević arbeitete seit knapp zwei
Jahren für Mercantile, nie kam er vor 19 Uhr aus dem Büro, er absolvierte geduldig
und gehorsam wie ein dressierter Hund die Geschäftsessen, lachte über die flachen
Witze seines Chefs, rückte dabei seine Krawatte zurecht.
„Welch amüsante
Anekdote!“, pflegte er zu sagen, doch heute war es anders. Er lehnte sich nach
vorne, um auf die Uhr seines Nachbarn zu spähen, die Zeiger schienen direkt
aufeinander zu liegen, aufeinander. Das würde Lucija gefallen. Früher hatte sie
aufgeregt geschrien:
„Viktor die Zeiger sind eins, genau jetzt da ich auf die
Uhr gesehen habe. Jemand denkt also an mich." Und schon hielt sie ihm drei
Finger hin.
„Zieh an einem, los!“ hatte sie bestimmt, und dann verzog sie das
Gesicht wenn Viktor den falschen Finger gewählt hatte und somit ein „falscher"
Mann gerade an sie dachte. Er schmunzelte, sie hatte sich immer ihre kindische
Ader bewahrt.
An all das dachte Viktor und an vieles mehr. Es stimmte wohl, man vergaß nie
die Frau mit der man sein erstes Mal erlebt hatte. Wie oft hatte er sich in
Gedanken verloren, verfangen, war gestürzt, und dann erklärte er Mira, seiner
Ehefrau, wie überarbeitet er war. Manchmal erwischte es ihn eiskalt. Letztens
stand er mit ihr in einer dieser Edelboutiquen. Seine Ehefrau hatte aus allen
Ecken ausgewählte Kleidung zusammengetragen und sie in einem unübersichtlichen
Haufen an der Kasse drapiert. Lumpen nannte Viktor sie, wohl wissend dass er 70
% des Kaufpreises nur für den Namen auf dem kleinen Schild bezahlte.
„4.500 Dollar, bittesehr!“, hörte er die Dame an der Kasse sagen, als er sie
anblickte war sie da: Lucija, natürlich nicht sie selbst. Aber diese Frau, sie
hatte ein Muttermal über der Oberlippe, genau wie seine Lutka. Es traf ihn wie
ein Schlag, er hielt seine American Express in den Fingern, sie schwebte
zwischen seinem pochenden Herzen und dem Muttermal, so lange bis ihm Mira die
Karte aus den Fingern nahm und sie entschlossen weiterreichte. „Du arbeitest zu
viel“, konstatierte sie.
Als Viktor Mr. Smith nicht länger ertragen konnte und da er glaubte, dass an
diesem Abend sicherlich keine geschäftlichen Themen mehr besprochen würden,
entschuldigte er sich und verließ, schneller als er hätte sollen, den Tisch.
Die verstopfte Avenue voller Taxen, die New York wie kleine gelbe Käfer
bevölkerten, lag vor ihm, er hatte sich immer noch nicht an dieses Chaos
gewöhnt. Die Autos drückten sich durch das Straßengitter, manchmal ging es
allerdings so langsam voran, dass man zu Fuß schneller vorwärts kam. Würde er
es denn schaffen, pünktlich zu sein? Er stieg in ein Taxi, nur allzu willig die
schwüle Hitze zu verlassen und sich in den kühlen Wagen zu setzen. Sicherlich
war er diese hohen Temperaturen gewöhnt, allerdings fröstelte es ihn jetzt schneller
als früher, Viktor wusste nicht, ob es deshalb war, weil er älter wurde oder
weil er Lutka verlassen hatte. In ihrer Nähe fror er nie und in ihr fror er
nie. In seinem Heimatland Jugoslawien stöhnte man erst jenseits der 40 ° C-Grenze. Ja, die Jugoslawen hatten ihren stillschweigenden Pakt mit der Hitze
geschlossen. Sie erduldeten sie und dafür lockte sie die Touristen ins Land,
spülte Geld in die Kassen und erlaubte es den Einheimischen sich durch Technik
Linderung zu schaffen. Die Jugoslawen lebten also in ihren Häusern, hörten das
Surren der Ventilatoren schon nicht mehr, machten ein Mittagsschläfchen,
schlossen die Wärme aus, versteckten sich unter den Zweigen der Olivenbäume.
Sie stachen auf die lubenice, die Wassermelonen, ein, zerteilten das rote
Fleisch das offen vor ihnen lag, wie eine Wunde, die bereit war, sauber geleckt
zu werden.
„So sieht Lucijas Geschlecht aus", dachte er, „offen, gerötet
und gespalten, nass glänzend und einladend.“
Er erinnerte sich an das erste
Mal, als er diese Wunde gesehen hatte.
In diesem Sommer, Ende der Sechziger, sie waren beide sechzehn damals, lag er
am Strand von Šibenik. Angestrengt versuchte er den Lärm der Welt
auszuschalten, als sie sich über ihn beugte.
„Liebst du die Sonne nicht?" hatte sie gefragt.
„Doch, warum fragst du?"
„Warum liegst du dann im Schatten?"
„Es ist zu heiß, um in der Sonne zu liegen."
„Dann liebst du die Sonne nicht! Du liebst sie nur, wenn sie dir nicht zu heiß
ist.", bemerkte sie vorwurfsvoll.
„Ja, aber ich verbrenne sonst, ich habe keinen Sonnenschutz dabei."
Sie wandte sich angewidert ab, um dann hinzuzufügen:
„Ich auch nicht, aber ich
liebe sie, die Sonnenstrahlen meine ich. Sollen sie mich ruhig verbrennen, dann
spüre ich sie, weiß, dass sie auf meine Haut getroffen sind. Die Rötung ist
eine Spur meiner Liebe, der Beweis, dass ich etwas liebe, auch wenn ich ihm
ausgeliefert bin. Das ist sichtbar gewordene Liebe, Viktor, verstehst du?“
Immer war sie so, so extrem und fordernd, nie konnte sie sich mit einem
Mittelmaß zufrieden geben. Hartnäckig glaubte sie, dass Viktor nicht wusste was
wahre Liebe war und dass sie ihn belehren müsse.
Am Abend darauf saßen sie am Strand hinter einem Stapel aufgetürmter
Liegestühle. Ihre Eltern waren beim Abendessen und diskutierten, ein Mahl
konnte sich über Stunden hinziehen. Immer wieder steckte man etwas in den Mund,
auch wenn man keinen Hunger verspürte, aber ein Tropfen Rotwein hatte noch
Platz, oder eine Nachspeise, ein Rinnsal von heißem Kaffee oder noch eine
eingelegte Olive, die so verlassen wirkte auf dem großen Teller. Das Essen war
nicht nur zur Sättigung gedacht, man kommunizierte miteinander, genoss die
Geschmäcker und Gerüche, fühlte die runden Trauben im Mund oder ließ das Eis
auf der Zunge zergehen.
Lucija drehte eine Weintraube zwischen ihren Fingern und beobachtete die zarte
Haut, die dunkelviolette Farbe. Sogar im Dunkeln schimmerte der kleine Ball in
verschiedenen Nuancen. Sie setzte die Traube an Viktors Lippen, schob sie durch
den Spalt, der sich öffnete und den Weg freigab.
Viktor schob sie mit der Zunge hin und her, zerbiss sie, schmeckte den süßlichen
Saft, dann spuckte er die winzigen Kerne in den Sand.
„Du machst es schon wieder“, bemerkte Lucija, „nie liebst du etwas ganz. Du
isst das Fleisch, aber du trennst es von den Kernen, aus denen es gewachsen
ist.“ Ihr Muttermal über der Lippe bebte und sah bedrohlich aus.
„Liebst du mich denn? Oder verlässt du mich, wenn dir eine Andere begegnet?“
„Natürlich nicht.“
„Beweise es mir, wie kann ich sicher sein, dass du mich liebst, du sagst nur
Worte, die zerfallen, sobald sie deinen Mund verlassen. Worte sind nichts als
aneinandergereihte Buchstaben. Ich wünschte du würdest mich lieben, wie ich die
Dinge liebe. Ohne Wenn und Aber.“
Sie lehnte sich zurück, grub die Füße
in den Sand und legte einen unschuldigen und doch fordernden Blick auf, als sie
ihren Rock weit hochschob.
„Wir dürfen das nicht.“ stotterte er.
„Was wenn unsere Eltern..?“
Sie legte ihm
eine Hand um den Hals, sie berührte ihn, sog seinen Duft tief nach innen, ließ
ihn durch ihre Adern fließen, bis sie merkte, dass sein Körper reagierte, sich
erhob und verlangte zu bekommen, was man ihm versprach.
„Sie sind doch im Restaurant, sie suchen nicht nach uns.“ Viktor beugte sich
nach vorne, wieso wehrte er sich überhaupt? Hatte er nicht schon vor langer
Zeit den Kampf verloren. Jedes Mal wenn er Lucija sah, drehte sein Verstand
sich um, ging in die andere Richtung, Viktor bestand dann nur noch aus den
Zellen seines Fleisches, fühlte sein Herz pochen und ihm wurde flau im Magen.
Immer schon hatte er ihr Haar berühren wollen, es schlängelte sich in großen
Wellen über ihre Schultern, war mal dunkelbraun, dann wieder bronzefarben oder
stellenweise so wie karamellisierter Zucker. Er wollte schon immer an ihm riechen, traute sich aber nie. Stattdessen drückte er seine Lippen jetzt
auf ihr Muttermal, umschloss dann ihre Oberlippe, sog daran wie ein hungriges
Baby an der Mutterbrust, und alle Ängste fielen ab, er würde sie lieben, das
wusste er jetzt, denn es blieb ihm keine Wahl.
An all das dachte er, als er die 4.500 Dollar zahlte, und an all das dachte er,
als er im Taxi saß. Damals hatte er sein erstes Mal erlebt, der
Traubengeschmack hatte sich mit dem ihres Speichels vermischt, und Viktor hatte
Spuren zwischen ihren Beinen hinterlassen.
Er musste seine Hand auf ihren Mund pressen, damit niemand sie hörte, denn Lucija
war immer intensiv. Für sie war die Lust keine, wenn man sie nicht in jeder
Faser fühlte, oder zum Meer hinausstöhnen konnte. Deshalb ließ er sie keuchen,
ließ sie seine Finger lutschen und beißen. Er selbst stöhnte in den Sand,
steckte sein Gesicht soweit er konnte in ihn, als er zum ersten Mal eine Frau
von innen fühlte, als sie ihn in sich aufnahm. Nie hatte er es sich erträumen
lassen, dass es sich so warm anfühlen würde, es war als wäre er kurz davor, das
Bewusstsein zu verlieren. Ihr Karamellhaar lag ausgebreitet vor ihm und er nahm
es in den Mund, bevor er sich vergaß und sein Körper ihm nicht mehr gehorchte.
Auf ihrer Uhr war es schon fast elf und von Viktor keine Spur. Hatte er es
sich anders überlegt? Vielleicht hatte er einen Rückzieher gemacht. Sie drückte
ihre Hände zusammen bis die Knöchel weiß wurden und zu schmerzen begannen. Die
Erinnerungen waren noch so lebhaft vor ihrem inneren Auge. Der Abend vor zehn
Jahren, als sie Schluss gemacht hatten, bohrte immer noch kleine Spitzen in
ihre Seele. Sie war damals noch
Single, aber Viktor war bereits verheiratet, hatte einen Sohn und eine Tochter.
Lucija wusste, dass Viktor ein Familienmensch war, er würde seine Frau nicht
verlassen, er würde seine Kinder nicht ohne Vater aufwachsen lassen. Aber
genauso liebte er auch sie, die Frau, die ihn zuerst hatte.
Immer wenn der
Kummer zu schwer wurde, immer wenn sie in der Badewanne lag, Opern hörte und
weinte, dann dachte sie, dass er ihr zuerst gehört hatte. Ein minimaler Trost,
aber es war die Wahrheit.
Damals in Zagreb hatte sie gedacht, sie würde ihn nie wieder sehen, nach diesem
Streit, nach dem Drama, das ihr für eine Weile den ganzen Atem genommen hatte.
Das Zimmer hatte im Dunkeln gelegen. Sie beide hatten sich geliebt, ihre Körper
waren noch verschwitzt und warm.
Aber sein Blick beachtete sie gar nicht, nicht
ihr Haar, nicht die Mulde zwischen ihren Brüsten. Er ließ sich auf den Boden
sinken. Manchmal hat man so eine Vorahnung von den Dingen, die gleich passieren
und sie wusste, dass der Akt abgeschlossen war und die Nähe, die sich schützend
um sie gebunden hatte, löste sich abrupt. Lucija sah sie davonschwimmen, wie
ein Boot das jemand losgebunden hatte. Man versucht in solchen Situationen nur
noch den Moment auszukosten, bevor man das Ungesagte hören muss. Bevor man hört,
was man schon weiß und deshalb schmerzt es, bevor es eigentlich schmerzen kann.
Antizipiertes Leid.
Und dann sprach er die Worte aus, die nichts von ihrer
Kraft einbüßen, nur weil man sie erwartet und im Geiste geformt hatte.
„Das muss ein Ende haben“, hörte sie ihn
sagen. Das Wort „Ende“ war glühend heiß, hämmerte in ihren Schläfen, brannte
auf der Haut, wie die Sonne Ende der Sechziger. Viktor sprach weiter, aber sie
fühlte nur das Ende.
Sie hatte seinen Samen mit einem Taschentuch ganz ruhig von ihren Brüsten
gewischt, danach damit ihre Tränen getrocknet. Er hatte ihr Gesicht und ihr
Muttermal geküsst, aber was konnte das helfen?
„Du liebst mich wie die Sonne“, sagte sie dann leise. Wenn es dir zu viel wird,
dann suchst du dir einen schattigen Platz. Du bist ein Verräter.“
„Nein, nur
verheiratet.“ – sagte er lapidar, kühl.
„Du bist keine Frau zum Heiraten Lucija, das mit uns ist Leidenschaft, es hat
nichts mit Liebe zu tun, und du weißt, dass es nicht sein darf, was würden denn
die Anderen sagen? Wir werden nie Mann und Frau sein!“ Dann kleidete er sich
an, trat in den Flur hinaus und zog die Tür leise zu. Danach nahm er ein
Jobangebot im Ausland an und schob den Atlantik zwischen sich und Lucija.
Die automatische Glastür öffnete sich um elf Uhr dreizehn. Um elf Uhr vierzehn
drückte Lucija sich an Viktor, sah zu ihm hoch, folgte den Linien in seinem
Gesicht, fuhr über die glatte, rasierte Haut und lächelte matt.
Um Mitternacht trafen sie in ihrem Hotel ein. Sie legte ihre Hände auf den
kühlen Marmorthresen des Empfangs, denn sie zitterten und konnten verraten,
dass sie nervös war.
„Guten Abend“, grüßte sie der Rezeptionist.
„Guten Abend, wir haben reserviert,
mein Name ist Viktor Tomašević“.
„Yes, Sir, dürfte ich ihre Pässe für den
Check-in haben?“ Viktor übergab seinen, den er immer im Jackett hatte.
„Sir, Sie haben ja heute Geburtstag! Hier steht 14.07. Herzlichen Glückwunsch!“
Viktor lächelte, ja es war nach Mitternacht, er wurde heute 36 Jahre alt. Er
fuhr Lucija übers Haar.
Sie kramte verloren in ihrer Handtasche, alles dauerte zu lange, konnten sie
nicht einfach hinaufgehen und sich ausziehen, sie hatte zehn Jahre lang seine
nackte Haut nicht gespürt. Schließlich fand sie den Pass und legte ihn auf den
Marmor.
Der Rezeptionist blätterte darin „Sie sind? Ach ja, hier steht es: Ja. Mrs. Lucija
Tomašević. Die Ehefrau-nehme ich an.“
Die Buchstaben waren tief in das dicke
Papier gedruckt, wie oft hatte Lucija sich gewünscht, andere Namen würden dort
stehen. Aber es waren nur aneinander gereihte Buchstaben. Wenn man sie
aussprach, trug der Wind sie weg.
„Ja, seine Frau.“, log sie.
„Sie wurden am gleichen Tag geboren wie ihr Mann. Am 14. 7. 1953. Congratulations!
Das muss ein gutes Zeichen sein! Welch ein Zufall.“
„Ja, wir werden immer darauf angesprochen.“ sagte Viktor, „Lucija, lass uns hinauf gehen.“
Er würde sie wieder lieben, das wusste er jetzt, denn es blieb ihm keine Wahl.
Sie waren schon vereint gewesen, bevor sie auf der Welt waren - und er würde
diese Bindung nicht durchtrennen.